¹ Fachbereich Physik, AG Didaktik der Physik, Freie Universität Berlin
² Fachbereich Erziehungswissenschaften, AB Schulpädagogik/Schulentwicklungsforschung, Freie Universität Berlin
Interaktive Bildschirmexperimente: Realdatenbasierte digitale Repräsentation naturwissenschaftlicher Experimente
Kann ich mit ionisierender Strahlung oder Hochspannung gefahrlos experimentieren? Wie verhalten sich Elektronen, wenn man sie auf eine Kristalloberfläche schießt? Welche Masse hat die Erde? Natürlich gibt es Formeln dafür, aber die Zusammenhänge versteht man besser, wenn sie in Experimenten anschaulich und im eigenen Tempo nachvollziehbar werden. Weil Zeit und Raum für echte Experimente im Unterricht oft begrenzt sind, hat die Arbeitsgruppe für Didaktik der Physik der Freien Universität Berlin das Interaktive Bildschirmexperiment (IBE) entwickelt: Fotografisch repräsentierte Experimente lassen sich durch realitätsnahe Handlungen mit der Maus oder per Touchscreen am Bildschirm (Tablet) durchführen und liefern ein unmittelbares Feedback – generiert aus Bild-, Ton- und Messdaten. Dadurch entfallen sowohl der in vielen Fällen hohe Aufwand für computergenerierte Modelle, ihre dreidimensionale Visualisierung als auch die Bereitstellung von fernsteuerbaren Experimenten im Internet.
IBE werden im Unterricht der Schule und in der Lehre bereits seit vielen Jahren erfolgreich eingesetzt. Mit dem Projekt „Technology Enhanced Textbook (TET)“ wurde das didaktisch-technologische Konzept des IBE auf das digitale „Lehrbuch der Zukunft“ übertragen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte das Projekt im Rahmen des von 2010 bis 2013 als Teil der sogenannten Hightech-Strategie für Deutschland. Die aus diesem Projekt weiterentwickelte Online-Plattform „tet.folio“ unterstützt Lernende durch eine digitale Erweiterung der Realität sowie durch Werkzeuge für die aktive Wissenskonstruktion und zum kooperativen Lernen. Ziel ist es, durch (angeleitetes) Selbermachen in digital erweiterten Lernumgebungen Kompetenzen im naturwissenschaftlichen Unterricht auf anschauliche Weise zu erwerben.
IBE lassen sich mit der in tet.folio integrierten Autorenumgebung herstellen, in digitales Lehr-Lernmaterial vielfältig einbetten und online bereitstellen. Durch die mögliche Entkopplung von Ort und Zeit des (mobilen) Experimentierens liefern IBE einen Beitrag zur Flexibilisierung des Lernens und können lebensbegleitende Lernprozesse wirksam unterstützen. In empirischen Studien wurde die Lerneffizienz der Kombination realer und virtueller Medien zum gleichen Inhalt untersucht. Ergebnis: Mit interaktiven Bildschirmexperimenten lernt man unter bestimmten Bedingungen nicht nur gleich gut, sondern sogar schneller.
Zu den Personen
Jürgen Kirstein forscht seit 1996 über multimediale Repräsentationen von realen Experimenten für das Lehren und Lernen in der Physik. Zuvor war er mehr als zehn Jahre als Studienrat für die Fächer Physik, Mathematik und Informatik im Schuldienst tätig. Er hat das IBE-Format im Rahmen seines Promotionsvorhabens entwickelt und zahlreiche Entwicklungs- und Evaluierungsprojekte zu Anwendungen von IBE in Schule und Hochschule konzipiert und verantwortlich geleitet. Seine Arbeiten wurden unter anderem mit dem European Academic Software Award (2000) ausgezeichnet. Als Kollegiat der Alcatel-Lucent Stiftung für Kommunikationsforschung war er 2002 am interdisziplinären Austausch zu Grundfragen multimedialer Lehre und Lernens beteiligt. Im Rahmen der Forschung und Entwicklung zu IBE hat er die vom BMBF geförderten Projekte „Technology Enhanced Textbook (TET)“ und „Erfahrungsbasiertes Lernen durch interaktives Experimentieren in erweiterten Realumgebungen (ELIXIER)“ (2016 bis 2018) maßgeblich konzipiert und beratend begleitet.
Sebastian Haase hat als verantwortlicher Entwickler die Web-Applikation „tet.folio“ implementiert und maßgeblich an der Konzeption mitgewirkt. Er konnte hier umfangreiche Erfahrungen aus seiner Promotion in der Biophysik einbringen, bei der er auch international gearbeitet hat. Seine Kompetenzen reichen von der Softwareentwicklung und Bildverarbeitung bis zur Hardwareentwicklung und Programmierung der jeweiligen Schnittstellen. Dabei sammelte er Erfahrungen in der Mikro-Controller-Programmierung und kann Skriptsprachen wie Python per Customized Runtime-Library-Interfaces an Hardwareschnittstellen anbinden. Er verfügt weiter über die nötige System-Administrator-Erfahrung, um die Hardwareschnittstellen per XML- oder JSON-Protokollen an HTTP-Webserver zu binden und diese damit über eine Online-Webseite entweder weltweit oder lokal hinter einer Firewall erreichbar zu machen. Im Rahmen von ELIXIER war er unter anderem für die Integration der tet.folio/IBE-Technologie in ein Lernanalyse-Modul und die tet.folio Infrastruktur zuständig. Seit 2019 ist er im Arbeitsbereich Schulpädagogik/Schulentwicklungsforschung für den Betrieb und die Weiterentwicklung der tet.folio-basierten Video-Plattform „FOCUS“ zuständig.